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Waffenstillstand oder Frieden

Waffenstillstand oder Frieden

Für einen echten Frieden zwischen dem Westen und Russland braucht es mehr als das Verstummen der Waffen, nämlich Vertrauen — dieses hat der Westen über Jahrzehnte hinweg verspielt.

Frei nach Joseph Beuys ist jeder Mensch ein Historiker. Als solcher ist er allerdings angehalten, Urteile oder Verurteilungen zu vermeiden. Er ist kein Richter, schon gar nicht ein Staatsanwalt. Seine Aufgabe ist es, zu verstehen. Die größte Gefahr droht von einer kritiklosen Übernahme gesellschaftlicher Vorgaben, wie am Beispiel der Strafjustiz in der bürgerlichen Klassengesellschaft kurz aufgezeigt sei.

Nach Erich Fromm liegt es im Wesen der Strafjustiz, das Augenmerk auf Verbrechen, Schuld sowie Gebote zu richten und wegzulenken von den tieferen, in sozialen Schieflagen angelegten Ursachen. Auf diese Weise finde eine systematische Manipulation statt. Die Lösung der Probleme bestünde, so werde suggeriert, in handgreiflichen Maßnahmen gegen den groß herausgestellten Delinquenten. Dadurch würden wie von selbst die gegebenen Macht- und Herrschaftsverhältnisse stabilisiert und gerechtfertigt, weil sie in dem guten Licht, das sie solchermaßen auf sich selbst werfen, als moralische Autorität erscheinen (1).

Das Ergebnis ist eine prinzipielle Verlogenheit. In diese von Ideologie und Indoktrinationen verseuchte Falle sind so gut wie alle „Friedensinitiativen“ getappt. Die offizielle NATO-Sicht der Ereignisse seit dem 24. Februar 2022 mitsamt der verhetzten Einstellung gegen Russland kulminiert im Umfeld scheinbar kritischer Attitüde um so wirksamer mithilfe des Verweises auf den „russischen Angriffskrieg“.

Das ist nicht, wie gelegentlich angemerkt, „unglücklich“ oder eine „reflexartige Konzession“, gar „anbiedernd“. Es ist Ausdruck eines tiefliegenden Defizites, in dem sich das Desaster deutscher und europäischer Unselbständigkeit seit 1945 spiegelt. Der Spielraum, der da noch bleibt, reduziert sich auf die Generosität vermeintlich moderner Pädagogik: Das unartige Kind soll an die Hand genommen und wieder auf den richtigen Weg gebracht werden.

Nach Clausewitz ist Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Will ich den Krieg beenden, muss ich darüber nachdenken, was in der Politik schiefgelaufen ist. Hier sind Schuldzuweisungen wenig hilfreich — was im Familienrecht vor einem halben Jahrhundert mit der Abschaffung des Schuldprinzips anerkannt wurde. Beide Parteien sind aufgefordert, den Spuren ihrer Verantwortung nachzugehen und die Realitäten, die sich aus ihrer Missachtung ergeben haben, anzuerkennen. Dazu gehören im Fall eines Krieges die strategischen Veränderungen auf dem Schlachtfeld.

Wem diese Veränderungen nicht gefallen, der sollte sich nicht beleidigt abwenden und einige abfällige Worte von sich geben. Das ist, wie Karl Marx bemerkte, bei der Beurteilung aktueller Gegebenheiten zu wenig. Im Fall eines Krieges wäre Aufgabe der Politik, sich mit den Faktoren zu beschäftigen, die zu ihm geführt haben.

Wenn ich darauf bestehe, der Krieg sei „unprovoziert“ vom Himmel gefallen, wird sich eine andere Sicht ergeben, als wenn ich mich renommierten Experten wie dem US-Politologen John Mearsheimer anschließe: er meinte, Wladimir Putin seien nach den durch die NATO initiierten Pressionen kaum Optionen offengestanden. Damit entgeht er dem Verdikt von Kant, wonach das Klagen über Umstände, die man selbst herbeigeführt hat, pöbelhaft sei (2).

Die Voraussetzungen, dieses Niveau zu vermeiden, standen schon schlecht, als der die bislang größte Resonanz nach sich ziehende Aufruf von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht auf der von US-Konzernen gesponserten und entsprechend strikt kontrollierten Plattform Change.org gestartet wurde. Nicht unerwartet kam es zu Formulierungen aus der Schatztruhe westlicher Propagandafloskeln: „Die von Russland brutal überfallene ukrainische Bevölkerung braucht unsere Solidarität.“

Das mag sein, aber wieso erst jetzt? Ist die Ukraine erst nach dem 24. Februar 2022 „brutal überfallen“ worden? Was ist mit dem Staatsstreich von 2014 und der von herangekarrten Paramilitärs vornehmlich aus der Westukraine ausgeführten Machtusurpation? Dem folgenden Terror in Mariupol, Charkow oder Odessa, gegen den Donbass und überall sonst gegen russischsprachige oder politische Oppositionelle durch faschistische Schlägerbanden?

Wieso wurde keine Solidarität gefordert mit Gruppierungen der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung, die in der Putsch-Ukraine wie überall in Osteuropa schon in den Zeiten zwischen den Weltkriegen von quasi-faschistischen, autoritären Regimen unterdrückt wurden (3)? Die Entwicklung dieser repressiven Strukturen war die Voraussetzung, dass russlandfeindliche Obsessionen so nachhaltig etabliert werden konnten. Sie düngten den Boden, auf dem die Saat des US-kapitalistischen „Drangs nach Osten“ bestens aufging.

Wer diese Einmischung in die Geschicke fremder Staaten, wie sie dann die US-NATO ab der zweiten Hälfte der 1990er Jahre in der Ukraine beispielhaft ausweitete, nicht als Auslöser russischer Reaktionen sieht, startet als Papiertiger und landet als Bettvorleger imperialer Mächte. Solche „Analysen“ sind Strohfeuer, Blendwerk, das sich NATO-Trollen, westliche Herrenreiter — oder, natürlich, Herrenreiterinnen beziehungsweise, klar, Damenreiter, um nicht zu sagen Damenreiterinnen — sowie die meisten Parteien zunutze machen, nicht zu vergessen die staatlich Alimentierten der Heinrich-Böll-Stiftung, die aus Mitgefühl mit dem Namenspatron vielleicht in Heini-Böller-Stiftung umbenannt werden sollte.

Mit der Schützenhilfe für die Fortführung der Hetzkampagne muss jeder konstruktive Ansatz a priori zerbröseln. Bedient werden jahrzehntelang gepflegte Ressentiments und weiter bekräftigt. Auch die sogenannte „Friedenserklärung von Wien“ vom Juni 2023 hat die zunächst noch erwähnte „Mitverantwortung der NATO“ gestrichen. Am Ende hieß es, dass „der Weg zum Frieden (...) auf den Prinzipien gemeinsamer Sicherheit, Respekt für internationale Menschenrechte und Selbstbestimmung aller Gemeinschaften basieren (müsse).“ Bemerkenswert vage. Konkret und klar war der Ton nur gegenüber Russland, dessen „illegale Invasion der Ukraine“ verurteilt wird. Und was hat zum Krieg geführt? Das Scheitern der Diplomatie (4)! Ist sonst niemand gescheitert?

Wir reden hier nicht von der Handvoll altgedienter Politiker und Wissenschaftler, die von Anfang an warnten, die NATO-Osterweiterung führe zum Krieg. Eher von den Heroen der unzähligen, gut ausstaffierten „NGO“s und ihrem Engagement für unsere „demokratischen Institutionen“, die von „autokratischen Systemen“ bedroht seien. Für Leute dieses Schlages ist jetzt „Diplomatie dringend erforderlich, um den Krieg zu beenden, bevor er die Ukraine zerstört und die Menschheit gefährdet“.

„Diplomatie“ wird nichts ausrichten gegen von Bereicherung, Ausbeutung und Plünderung besessene Kräfte. Auch nichts gegen von ihnen korrumpierte Schichten in Politik, Wissenschaft, Medien, nicht zu vergessen der famosen „Zivilgesellschaft“. Sie sind mitverantwortlich für einen Gesellschaftscharakter, der gelähmt ist von Apathie, Konsumismus, Vereinsamung und einem Mangel an konstruktiver Energie, die auch nur ansatzweise zum Aufbau einer anteilnehmenden Gesellschaft in der Lage wäre. Und der ziemlich gut eingeschätzt wird mit Zumutung, wir hätten es mit einem Scheitern der „Diplomatie“ zu tun.

Nein, gescheitert sind „kritische“ Mitläufer, die am 24. Februar 2022 munter wurden. Sie lancierten, als das Kind in den Brunnen gefallen war, einen „Appell: Frieden schaffen!“

Gefordert werden „Waffenstillstand, Verhandlungen und gemeinsame Sicherheit“ in Erinnerung an die „positiven Erfahrungen der europäischen Entspannungspolitik , damit es schnell zu einem Ende des Krieges und zu einer neuen Friedens- und Sicherheitsarchitektur in Europa kommt“ (5). Wer mag hier als Adressat gedacht sein? Der Bundeskanzler wird genannt. Das kann nur einem Talent für herbe Ironie geschuldet sein. Eine schwache Brise nüchterner Erwägungen streift uns, wenn eine „europäische Sicherheitsordnung“ gefordert wird. Zur Ordnung dieser Art von Sicherheit gehört offenbar, dass US/NATO und ihre Vasallen im ganzen Text nicht erwähnt werden. Anders als Russland — im Zusammenhang mit seinem „völkerrechtswidrigen Angriffskrieg“.

Im Klartext wird uns beigebracht, wer sich der „europäischen Sicherheitsordnung“ widersetzt. Ein realistischer Ansatz sieht anders aus. Er muss zunächst klarstellen, weshalb der Krieg ausbrach. Aber hier tun sich Erkenntnisschranken auf.

Der Westen tut sich naturgemäß schwer mit der Einsicht, dass alles auf einen gewaltsamen Konflikt zusteuerte, weil das US-Imperium auf die globale Hegemonie im Interesse einer Kontrolle von Ressourcen, Investitionsfeldern und Finanzprodukten angewiesen ist. Noch kurz vor Toresschluss verscherbelt Kiew den ukrainischen Energiesektor an US-Unternehmen wie ExxonMobil, Chevron und Halliburton. Die übliche Schocktherapie in Gestalt von Privatisierungen, Deregulierungen und Abschaffung sämtlicher Arbeitsrechte war ohnehin schon verstärkt seit „Maidan“ im Gange.

Auch dieser Krieg ist ein Geschäft mit anderen Mitteln. Verhindert werden soll die Implosion eines Wirtschaftsmodells der Spekulationsblasen und schuldenfinanzierten Expansion. Die Hysterie über weltweite Bedrohungen ist kein Hirngespinst. Die sogenannten Neo-Cons sind nicht „verrückt“. Ihre Ansichten resultieren aus Schlüssen aus den US-amerikanischen Wirtschafts-, Einkommens- und Besitzverhältnissen, durch die sich spezifische Finanz- und Währungsstrukturen herausgebildet haben. Schizophrenes Verhalten an den Tag legen diejenigen Teile der Machtelite, deren PR-mäßig gestyltes Image solche Schlüsse nicht beinhaltet. Es übertüncht die simple Logik, dass zur Absicherung ihres Mickey-Mouse-Paradieses der Globus mit Tod, Vernichtung, Terror und nacktem Elend überzogen werden muss.

Zu den Helfershelfern dieser Verbrecher zählen nicht nur die Transatlantik-Fanatiker. Auf ihre Art nicht minder konformistisch sind die vielen Schwärmer, die Fehler anmahnen. Doch zeigt schon die Kontinuität der US-Innen- und -Außenpolitik, dass dieses System selber ein einziger Fehler ist.

Moskau traut dem Frieden nicht

Russland auch nur indirekt mit der Forderung nach einer „europäischen Sicherheitsordnung“ zu konfrontieren, ist ein Witz wie der jahrelange Appell, die „Minsker Verträge“ einzuhalten. Sie waren völkerrechtlich durch UN-Beschluss verbindlich, was aber auf Anweisung Washingtons zu ignorieren war — mit dem „Eingeständnis“ seiner Vasallen, man habe Zeit gewinnen wollen, sollte eine Entscheidungsbefugnis vorgeschoben werden, die nicht existent war. Moskau wurde getäuscht, wie in Bezug auf eine „europäische Sicherheitsordnung“, die es seit jeher verlangt hat. Bekommen hat es die Ausweitung eines US-geführten Militärbündnisses nicht nur auf das ehemalige Staatsgebiet der DDR, was nicht durchzuführen Michail Gorbatschow 1991 in die Hand versprochen wurde.

Ein Wimpernschlag später waren NATO-Strukturen in der Ukraine etabliert. Erste gemeinsame Manöver fanden seit Mitte der 1990er Jahre statt und 1997 wurde eine „strategische Partnerschaft“ vereinbart. An den seitdem abgehaltenen Übungen im Schwarzen Meer waren im Sommer 2021 Einheiten aus 32 Staaten beteiligt. Einen interessanten Kommentar zu Völkerrecht und staatlicher Souveränität steuerte die Ukraine schon vorher bei, als sie sich von 2003 bis 2008 mit tausenden Soldaten am US-Überfall auf den Irak beteiligte.

In den 1970er Jahren drohte Nicaragua zu einem zweiten Kuba, dem schwimmenden Alptraum der USA vor Floridas Küsten, zu werden. Der damalige US-Außenminister malte das Schreckgespenst von zwei Fußmärschen von Managua bis Texas an die Wand. Von der Ostgrenze der Ukraine bis Moskau ist der Weg kürzer, zu schweigen von den fünf Minuten Flugdauer eines mit Atombomben bestückten Marschflugkörpers.

Moskau hat gute Gründe, dem Frieden nicht zu trauen. Es ist ein „Frieden“, den der Westen ab dem Ersten Weltkrieg für Russland inszenierte. Gleichwohl war Moskau insbesondere seit 1990 von unglaublicher Geduld. Es hat die Glacéhandschuhe ausgezogen, nachdem unübersehbar wurde, dass der Westen nie welche anhatte. Wie ist unter diesen Umständen ein Ende des Krieges denkbar?

Der Vorschlag einer „europäischen Friedensarchitektur“ klingt gut. Russland hat ihn zuletzt im Dezember 2021 gemacht. Autonomie von Krim und Donbass im Rahmen eines ukrainischen Staates? Russland hat dem im März/April 2022 zugestimmt. Damit wäre der Krieg beendet gewesen. Der Westen hat es vorgezogen, Russland „zu schwächen“, es „zu ruinieren“. Daraus ist nichts geworden und jetzt sind wir über 20.000 tote Russen weiter. Sie sind nicht gefallen, damit Russland sich auf Bedingungen einlässt, die vor mehr als einem Jahr auf taube Ohren gestoßen sind. Die eigentliche Frage, die sich jede Friedensinitiative stellen müsste, ist, wieso der Westen um jeden Preis den Krieg verlängern und Hunderttausende in den Tod schicken wollte. Die einfache Antwort ist: Er konnte nicht anders.

Die Ökonomie des westlichen Irrweges

Hinter den Wirtschaftsdaten der G7-Staaten türmen sich seit Jahrzehnten düstere Wolken auf. 2000 platzte die dot.com-Blase, 2006 begann eine Finanzkrise, die mit den gleichen Mitteln „bekämpft“ wurde, die zu ihr geführt hatten. Billionen wanderten zur Sanierung eines Sektors an jene Akteure, die für das Desaster verantwortlich waren. Da das Casino-Spiel beibehalten wurde, konnten nur Beobachter mit der Gemütsverfassung von Monte Carlo-Pauschaltouristen überrascht sein, als die Wall Street September 2019 erneut kurz vor einer Kernschmelze stand.

Insgesamt haben Staaten und Zentralbanken in den folgenden zwei Jahren mit gut 20 Billionen den weltweiten Geldkreislauf aufgebläht. Für Akzeptanz hatte man vorgesorgt. Die Corona-Despotie war geprägt von kollektiven Gehorsamsübungen, der Einführung von Repressionsverfügungen und -ausführungen sowie der Vernichtung von Existenzen breiter Schichten als Flurbereinigung für Kapitalanlagen und einer drastischen Erweiterung prekärer Arbeitsverhältnisse.

Mit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine konnte eine weitere Stufe der Verlagerung gesellschaftlichen Vermögens weg von Ausgaben für Sozialstaat, Gesundheitswesen, Infrastruktur, Wohnungsbau und Bildung hin zu Rüstungs-, Pharma-, Finanz- und Internetgiganten gezündet werden. Profitabel ist das nicht. Es ist ein Spekulationsmodell, das der ständigen Zuführung neuer Renditeobjekte bedarf. Zusätzlich ist das US-Wirtschaftssystem mit seiner negativen Handelsbilanz darauf angewiesen, dass der Rest der Welt seine Währung kauft, um die derzeitigen 31 Billionen Schulden nicht zurückzahlen zu müssen. Wir alle finanzieren die US-Basen und -Kriege, die wiederum erforderlich sind, um jene Schulden machen zu können.

Mit der Konfrontation, die durch die NATO-Osterweiterung herbeigeführt wurde, sollten mehrere Fliegen mit einer Klappe geschlagen werden: Menschen, wenn’s sein muss, zur Schlachtbank führen, eigene Soldaten außen vor lassen, Russland bedrängen, schwächen, am Ende ausbeuten wie zu Jelzins Zeiten und womöglich aufteilen, sowie China eines wichtigen Verbündeten berauben. Doch wenn man von dem Massensterben absieht, ging alles schief.

Es begann mit der Verkennung nicht nur der Stärken Russlands, sondern des historischen Wandels in der Weltordnung, der sich seit einigen Jahren anbahnte. Auch in Russland selber gab es schon länger Tendenzen zu einer Umorientierung seiner industriellen Strukturen sowie der Handels-, Finanz- und Währungsbeziehungen. Besseres konnte nicht passieren, als dass ein triebhafter Delinquent die Beziehungen zu seinem seit über einem Jahrzehnt über Gebühr drangsalierten Opfer abbricht. Kolossalen Aufschwung erlebte die Idee einer globalen Multipolarität mit zur US-Dollar-Hegemonie alternativem Zahlungs-, Finanz- und Warenverkehr im Rahmen der BRICS+-Staaten und der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit, SCO, sowie der von China langfristig angelegten Strukturen der RBI, der neuen Seidenstraße.

Der legendäre SPD-Politiker Herbert Wehner rief, ich glaube, es war Anfang der 1970er Jahre, während einer der Bundestagsdebatten über die Ostverträge der aus Protest den Plenarsaal verlassenden CDU/CSU-Fraktion hinterher: „Gehen Sie nur! Aber denken Sie daran: wer herausgeht, muss auch wieder hereinkommen!“

Wie will der Westen, der wie von Sinnen alle Brücken abgebrannt hat, „wieder hereinkommen“? Was kann er Russland anbieten?

Ein weiteres Fiasko, das immerhin anklang im „Friedensappell“ von Oskar Lafontaine und Jürgen Todenhöfer, ehedem im Bundestag als SPD- beziehungsweise CDU-Abgeordnete (6).

Zum einen erinnerten sie daran, dass „Deutschland und Frankreich ihre eigenen nationalen und europäischen Interessen vertreten (müssen) und nicht in erster Linie die Interessen USA“. Zum anderen betonten sie, dass es nicht nur ohne Russland in Europa „keinen dauerhaften Frieden geben“ wird, sondern auch nicht „ohne eine Politik der Vereinigten Staaten, die auch den Sicherheitsinteressen Russlands Rechnung trägt“ (7). Einen ähnlichen Weg schlägt China vor: Die Souveränität sei zu respektieren, die UN-Charta einzuhalten, die Anliegen beider Seiten zu berücksichtigen und friedliche Mittel zur Lösung der Krisensituation anzuwenden. Bis dahin ist es noch weit.

Die größte Schwierigkeit ist das seit Jahrzehnten geförderte Klima des Hasses auf Russland. Es wurde systematisch aufgebaut durch Lügengeschichten, die andere Lügengeschichten „belegen“. Ein Geflecht transatlantischer Agenten in Wirtschaft, Politik, Wissens- und Kulturinstitutionen sowie gleichgeschaltet agierender Medien kreierte eine Parallelwelt der Wahnvorstellungen, die eine lange Vorgeschichte haben. Sie reicht bis weit vor 1945. Selbst die Nazi-Zeit war nur eine Etappe im Kontinuum einer gegen Russland gerichteten Hetze. Dagegen wird nur ein Kraut gewachsen sein: dass mit dem wirtschaftlichen und finanzpolitischen Verfall nicht einmal mehr die Illusion von Stärke und Überlegenheit aufrechterhalten werden kann. Unabhängig davon ist die Realität jetzt schon rauh genug.

Nahe Perspektiven

Den Preis, den man Russland abverlangt hat, hat es bezahlt. Dem ist Rechnung zu tragen. Wem das nicht gefällt, der hätte den Krieg verhindern müssen. Der Westen wollte es nicht. Er dachte, Russland stünde mit dem Rücken zur Wand. Das war eine Fehleinschätzung. Auch dem ist Rechnung zu tragen. Doch man zog es vor, die eigenen Bürger zu ruinieren und die Ukrainer auf Himmelfahrtskommandos zu schicken, die „Offensiven“ genannt wurden.

Vielleicht führt ihr Desaster im Westen dazu, dass sich besonnene Kräfte mehr Gehör verschaffen können. Aber auch für diesen Fall dürfte die Kompromissbereitschaft seitens Moskaus begrenzt sein. Kiew und dem Westen schwebt als Vorbedingung für Gespräche ein Rückzug der russischen Truppen auf die Grenzen von 2014 vor. Das kann man vergessen.

Für die Verantwortlichen im Kreml könnte unter der Bedingung anschließender Gespräche über folgende Punkte als Verhandlungsgrundlage denkbar sein:

1) Ende der Anwesenheit von NATO-Militär außerhalb des Bündnisses
2) Vertrauensbildende Maßnahmen zur Verhinderung jeder Benachteiligung oder Diskriminierung ethnischer Minder- oder Mehrheiten in der Ukraine
3) Verbot der Betätigung faschistischer, protofaschistischer und rassistischer, strukturell russophober Organisationen
4) Vorbereitung von Referenden in jedem Oblast unter internationaler, von der Russischen Armee, eventuell gemeinsam mit ukrainischen Ordnungskräften, geschützter Kontrolle mit
5) folgenden Optionen:
a) Autonomie im Rahmen
aa) eines ukrainischen Staates oder
bb) der Russischen Föderation oder
cc) eines anderen Nachbarlandes (Weißrussland, Polen, Slowakei, Ungarn, Moldawien oder Rumänien) oder
b) Selbständigkeit
6) Abbau von US/NATO-Trägersystemen an der westlichen Grenze Russlands
7) Aufgabe von Plänen einer Ausdehnung der NATO
8) Die Mitgliedschaft einer föderativen Ukraine oder eines sich gebildeten Einzelstaates auf ihrem bisherigen Territorium in der EU darf keine Russland diskriminierenden oder seine Sicherheit tangierenden Bestimmungen enthalten, insbesondere bezüglich Handelsbeziehungen und militärischer Kooperation.
9) Verhandlungen über Rüstungskontrolle und nukleare Abrüstung nicht nur in Europa sowie eine Friedensarchitektur für unseren Kontinent, der von Lissabon bis mindestens zum Ural gedacht ist.

Große Zugeständnisse dürften nicht zu erwarten sein. Sie liefen auf einen Fortbestand existentieller Bedrohungen für Russland hinaus und sicherten die westliche Wertegemeinschaft mit glühenden Anhängern von Nazi-Kollaborateuren. Mit Hingabe beteiligten sie sich an der Ermordung von 1,5 Millionen jüdischer Ukrainer sowie zehntausender Russen und Polen. Für sie wurde ihr Land 1943/44 von der Roten Armee nicht befreit, sondern besetzt. Wurde nicht schon damals „ein souveränes Land angegriffen“? „Unprovoziert“?

Die Überzeugungen dieser Fanatiker stellen eine Gefahr für Europa und den Rest der Welt dar, auch für die Ukraine. Für Russland sind sie bereits nach 14.000 Toten in Kiews Krieg gegen die russischsprachige Bevölkerung und der dramatischen Zunahme des Beschusses des Donbass Mitte Februar 2022 indiskutabel geworden. Seitdem hat sich der Spielraum weiter verengt.

Kant hatte über die Despotie moralisierender Politiker keine Illusionen: „selbst ein Weltteil, wenn er sich einem andern, der ihm übrigens nicht im Wege ist, überlegen fühlt, wird das Mittel der Verstärkung seiner Macht durch Beraubung oder gar Beherrschung desselben nicht unbenutzt lassen“ (8). Dem hat Russland einen Riegel vorgeschoben. Um hier zu einer Verständigung zu kommen, bedarf es, wie Kant prinzipiell festhielt, mehr als „die bisher fälschlich so genannten Friedensschlüsse“, die nur Waffenstillstände seien. Er bezeichnete sie als leere Ideen. Benötigt würden von Moral, Recht und Pflicht geleitete Schritte hin zu dem von ihm anvisierten „ewigen Frieden“. Er stelle in praktischer Absicht eine Aufgabe dar, der ständig näher zu kommen sei (9).

Unsere Hoffnung sollte dahin gehen, einen solchen Prozess anschieben und ihm beiwohnen zu können. Das wäre dann, allen pöbelhaften Schwätzern sei es zugerufen, in der Tat eine „Zeitenwende“.


Quellen und Anmerkungen:

(1) Siehe Erich Fromm: Der Staat als Erzieher. Zur Psychologie der Strafjustiz, sowie: Zur Psychologie des Verbrechers und der strafenden Gesellschaft, beide in Fromm: Gesamtausgabe, hrg. von Rainer Funk, Bd. 1, Stuttgart 1999,
(2) Siehe Kritik der reinen Vernunft, B 373
(3) Siehe nur Maxim Goldarb, Stimmen aus der Ukraine: Linken Oppositionellen drohen Gefängnis oder Tod, NachDenkSeiten 5. Mai 2023 https://www.nachdenkseiten.de/?p=97237#more-97237
(4) Siehe Final Draft Declaration, 11. Juni 2023 abfang.org) 
https://abfang.org/wp-60db5-content/uploads/2023/06/International-Summit-for-Peace-in-Ukraine_FINAL-DECLARATION_11-6-23.pdf; Medea Benjamin, Ukraine-Krieg: Internationale Friedenskonferenz fordert Diplomatie jetzt, telepolis 13. Juni 2023 https://www.telepolis.de/features/Ukraine-Krieg-Internationale-Friedenskonferenz-fordert-Diplomatie-jetzt-9185718.html; Hannes Hofbauer, Rechts um! Gewerkschaft und Grüne machen Front gegen einen Wiener Friedensappell, MANOVA 16. Juni 2023 https://www.manova.news/artikel/rechts-um
(5) Siehe https://frieden-und-zukunft.de/2023-04-01_aufruf-frieden-schaffen
(6) Siehe fr.de, 4. Mai 2023 https://www.fr.de/politik/friedensappell-von-todenhoefer-und-lafontaine-92254815.html
(7) Siehe auch, sehr interessant, Michael von der Schulenburg, Wie stehen die Chancen um einen Frieden in der Ukraine? Telepolis, 7. Januar 2023 https://www.telepolis.de/features/Wie-stehen-die-Chancen-um-einen-Frieden-in-der-Ukraine-7447930.html?seite=all
(8) Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden, in: ders., Kleinere Schriften zur Geschichtsphilosophie, Ethik und Politik, hrg. von Karl Vorländer, Hamburg 1964, Seite 153
(9)Siehe ebenda, Seite 169


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